Wenn Retter zu Opfern werden
Verbale oder körperliche Gewalt gefährden nicht nur den Einsatz, sondern auch die Rettungskräfte.
(Szene nachgestellt) Foto: Loock
Erschreckende Nachrichten über Angriffe auf Rettungskräfte in der Silvesternacht verursachten viele Diskussion über die Einsatzkräfte, die zu Opfern wurden. Eine Umfrage des DRK aus 2019 offenbarte, dass es besonders nachts in den sozialen Brennpunkten der Großstädte und bei Großveranstaltungen immer wieder zu verbalen und körperlichen Übergriffen kommt.
Entwarnung für den Landkreis
Die Rettungskräfte des Landkreises Stade sind zum Glück nur selten derartigen Situationen ausgesetzt. In einem Interview mit Mitarbeitern des DRK-Rettungsdienstes stellte sich zwar heraus, dass durchaus immer mal wieder Beleidigungen geäußert werden, doch zu körperlicher Gewalt komme es nur selten. „Bei so etwas spielen oft Alkohol, Drogen, Schock, Panik oder eine psychische Erkrankung mit hinein“, erklärt Martin Lobin, Leiter des DRK Rettungsdienstes. „Da kann man aber auch eher einschätzen, wo diese Beschimpfungen herrühren.“
Eigenschutz steht an erster Stelle
Gefährlich kann es trotzdem einmal werden. So wurden Mitarbeiter des DRK-Rettungsdienstes schon mit einer Schreckschusspistole verjagt oder tätlich angegriffen. In so einem Fall steht dann der Selbstschutz im Vordergrund. „Wir Rettungskräfte sind ausgebildet, Gefahrensituationen einzuschätzen“, betont Patrick Huber, Qualitätsmanagementbeauftragter für den DRK-Rettungsdienst. Bei kritisch erscheinenden Umständen und einschlägigen Adressen wird die Polizei von der Rettungsleitstelle gleich mit angefordert. Eskaliert die Lage vor Ort, sind die Rettungssanitäter angehalten, in erster Linie auf ihre eigene Sicherheit zu achten. Die Versorgung muss dann ggf. ein paar Minuten warten, denn sie ist in solchen Situationen häufig nicht zeitkritisch. So können die Einsatzkräfte bis zum Eintreffen der Polizei warten. „Das klappt in 99% der Fälle“, berichtet Martin Lobin. Doch Störungen des Rettungseinsatzes kommen häufig aus unverhoffter Richtung.
Unbeteiligte oft uneinsichtig
„In der Regel sind es mehrere Personen, die mit dem Einsatz gar nichts zu tun haben“, berichtet Alexander Kunze, Rettungssanitäter und Kollegialer Ansprechpartner für den DRK-Rettungsdienst. „Die zeigen sich durch körperliche Präsenz und werden dann auch mal handgreiflich gegenüber den Kollegen des Rettungsdienstes.“
Auch Kreisbrandmeister Peter Winter berichtet von solchen Situationen. „Mit verbalen Attacken haben wir es tatsächlich zu tun.“ Besonders wenn die Feuerwehr Absperrungen aufstellt, gebe es Pöbeleien oder Menschen, die sich mit dem Fahrzeug durchdrängeln. So raste z.B. ein rücksichtsloser Sportwagen-Fahrer bei einer Sperrung der B73 sogar direkt auf die Hilfskräfte zu, so dass diese sich mit einem beherzten Sprung in Sicherheit bringen mussten. Solche uneinsichtigen Personen bringen mit ihrem Verhalten sich selbst und andere in Gefahr. Auch bei Bränden komme Unverständnis für die Situation vor. So sei es bei einem Schwelbrand im Erdgeschoss manchmal schwierig, die Bewohner in den höheren Stockwerken zu einer Evakuierung zu bewegen. „Da kann es zu Konflikten kommen oder zu Diskussionen“, berichtet Kreisbrandmeister Winter. In voller Montur mit Atemschutzgerät, mit schweren Gerätschaften und unter Zeitnot sind Erklärungen jedoch schwierig. Dafür hat man erst draußen in Sicherheit Zeit und Gelegenheit.
„Wir gehen dahin, wo andere weglaufen“
Unfälle, Brände, Hochwasser, dazu Stress, Panik und Leid bei Betroffenen und Angehörigen – sich täglich bewusst in solche Situationen zu bringen, um seinen Mitmenschen zu helfen, verdient großes Lob und Anerkennung. „Wir leiden ja alle an derselben Krankheit: dem Helfersyndrom“, drückt es Kreisbrandmeister Peter Winter aus, der als Leiter der freiwilligen Feuerwehr des Landkreises selbst viel erlebt hat. „Es hat viel mit Aufopferung zu tun“, sagt Martin Lobin. „Man macht diesen Job eher aus Berufung.“
Hilfe für traumatisierte Retter
Haben Einsatzkräfte traumatische Erlebnisse im Einsatz erlebt – Auffinden von schwer Verunglückten, Brandverletzten, ggf. sogar persönlichen Bekannten – setzt die Psychosoziale Notfallversorgung (PSNV) ein. Kreisbrandmeister Winter erklärt: „Unsere Kameradinnen und Kameraden sind sehr offen geworden und äußern den Wunsch nach Betreuung.“ In diesem Fall kommt geschultes Personal direkt zur Einsatzstelle und setzt sich sofort mit den betroffenen Einsatzkräften zusammen. Es gibt dann in der Folge oft noch Einzelgespräche, je nach Bedarf dann auch bei Psychologen.
Der DRK-Rettungsdienst hat ein soziales Sicherheitsnetz, um den Kollegen bei psychisch belastenden Situationen zur Seite zu stehen. „Am Einsatz ist man ja nicht allein, da passt man gegenseitig aufeinander auf“, sagt Alexander Kunze. Er ist seit sechs Jahren Rettungssanitäter und inzwischen einer von fünf geschulten Kollegialen Ansprechpartnern. Es helfe den Rettungskräften, sich Kollegen anvertrauen zu können, die die Situationen kennen. Dennoch sei das Erlebte für jeden individuell. Notfallseelsorge, Betreuung durch Psychologen – all dies steht zur Verfügung und wird immer wieder in Anspruch genommen.
Offener als früher
Peter Winter und Martin Lobin sind sich darüber einig, dass die Einstellung dazu, sich Hilfe zu holen, heute eine andere ist als vor einigen Jahrzehnten. „Da hat man die Härte nach außen gezeigt“, erklärt der Kreisbrandmeister. „Die Feuerwehrleute von heute gehen damit Gott sei Dank offen um und sagen: Ich habe Betreuungsbedarf. Und der wird ihnen selbstverständlich gewährt.“ Martin Lobin bestätigt:
„Mittlerweile spricht und öffnet man sich mehr als früher.“
Eine positive Entwicklung, die auch durch den Aufbau des Betreuungsangebots gefördert wurde.
Hochachtung für die Retter
Pöbeleien, Drohungen, Durchdrängeln, den Einsatz behindern, Handgreiflichkeiten – all dies ist tatsächlich im Einsatz der Rettungskräfte möglich. Dennoch sind diese Beispiele in unserem Landkreis zum Glück nicht alltäglich.
Psychisch belastende Situationen kommen immer wieder vor, aber sowohl die Mitarbeiter des DRK-Rettungsdienstes als auch Kreisbrandmeister Winter betonen, dass die Dankbarkeit, die man täglich erfahre, viel prägender für den Beruf sei. „Kameradinnen und Kameraden, die ein Lob erfahren, nehmen das ernst. Das baut sehr auf“, sagt Peter Winter. Der Stellenwert der Rettungskräfte sei in unserer Gesellschaft hoch, auch durch die örtliche Nähe. „Jeder kennt jemanden, der bei der Freiwilligen Feuerwehr ist.“
Die erfahrene Anerkennung ist wohl einer der Gründe, warum so viele Einsatzkräfte über Jahre in ihrem Beruf aufgehen und trotz aller Widrigkeiten Erfüllung in ihrer Tätigkeit finden. Für diese Hingabe gebührt ihnen äußerste Hochachtung. (KL)